Entkusseln

Entkusseln

Es war an einem neblig-diesigen Samstagmorgen im Oktober, da lag plötzlich der Geruch von Feuern und einer Prise Zimt in der Luft. Es roch nach Abenteuern. Während der Morgen am entfernten Horizont graute, trafen sich eine Hand voll abenteuerlustige Pfadfinder:innen auf dem Kirchhof in Lehndorf, um gemeinsam nach Neuenkirchen aufzubrechen, das Unbekannte zu entdecken, neue Heidelandschaften zu durchstreifen und nach Heidi zu suchen. Heidi, müsst ihr wissen, ist die Patenschnucke von Fabian und Carmen und der Glücksbringer aller mutigen Entkussler:innen. Sie begleitet uns seit dem ersten Entkusseln. Und jeder, der dabei war, weiß, dass man Heidi gar nicht finden muss, Heidi findet dich von alleine, wenn du nur genug entkusselt und kein Feuer hast hohl brennen lassen.

In Neuenkirchen angekommen, stärken sich unsere Abenteurer:innen an einer heißen Tasse Tee, während sie auf Werner warten. Werner ist der Vorsitzende des Schäferhof e.V. und lädt uns alljährlich immer wieder gerne auf den Schäferhof zu Arbeit, Übernachtung und Schnuckenaustrieb ein. Und es wäre kein Entkusseln, wenn wir nicht auch dieses Jahr wieder auf das Auto warten müssten, das als erstes in Lehndorf aufgebrochen ist und trotz weiten Vorsprungs auf der Autobahn, verlässlich als letztes in der Heide ankommen wird. Endlich vollzählig werfen sich die gähnenden Pfadfinder:innen in Schale und brechen zu ihrem Arbeitseinsatz auf. Bewaffnet mit Gummistiefeln, Harken, Kettensägen und allerlei Gartenwerkzeugen entführt Werner uns alljährlich in die entlegensten, verwuchertsten Ecken der Heide – so auch dieses Mal.

Am Arbeitsort angekommen treffen wir auf den Rest der heutigen Einsatzgruppe und bewundern die wilde Natur und die bereits entkusselten Bereiche. Werner hat immer einen Schwank auf Lager. Er erzählt, von wem die letzte Fläche entkusselt wurde und hat stets ein Lob auf den Lippen, dass außer der Bundeswehr kaum jemand so viel wegschafft wie die Pfadfinder:innen. Hoch motiviert und schwungvoll geht es an das Tagewerk. Die ausgewiesene Fläche ist so zugewachsen, dass sie scheinbar niemals innerhalb eines Tages entkusselt werden kann. Wir teilen uns in kleine Grüppchen auf. Die mit Motorsense und Kettensäge nehmen sich größere und ausgewachsene Bäume vor, während die anderen mit Heckenschere und Harke die jungen Sprösslinge abschneiden und den Grünschnitt zusammenharken. Es werden immer wieder kleine Pausen eingelegt und Fachsimpeleien betrieben.

Nachdem in den letzten Jahren ein Grünabfallcontainer vor Ort war, der von einem monströsen Traktor beladen wurde, für den die Haufen exakt ausgerichtet werden mussten, fragen wir Werner: „sach mal, warum machen wir eigentlich keine Feuer mehr?“ Es stellt sich heraus, dass wir in den letzten drei Jahren vollkommen unnötig auf ein Feuer verzichtet haben… So kommt neuer Elan auf und es werden viele kleine Haufen zu drei großen Haufen aufgetürmt. Nun kommt die Kunst: nachdem man den frischen Ast- und Baumschnitt zum Brennen bekommen hat, darf das Feuer nicht aus gehen und nicht hohl brennen! Es ist also höchste Konzentration gefragt. Und natürlich findet sich immer mindestens ein Freiwilliger, der teilnahmslos am Feuer steht und darauf achtet, dass es nicht hohl brennt, während die anderen sich weiter durch das Unterholz schlagen und weitere Kussel vom Boden aufklauben, um das Feuer weiter zu füttern.

Um die Mittagszeit hören wir ein Trappeln und Stampfen. Siehe da, da kommt etwas aus dem Unterholz. Es ist der Schäfer mit der Schnuckenherde. Zum ersten Mal treffen wir die Schnucken schon während des Entkusselns, sodass wir eine Pause einlegen, um eine Runde mit den Schnucken zu kuscheln. Nur kurze Zeit später fährt die Schäferin vor und bringt uns zur Stärkung eine dicke Erbsensuppe. Das hebt die Moral und taut die angefrorenen Knochen auf. Durch Suppe und Kuschelung frisch gestärkt, packen die ersten Unterstützer ihre Gerätschaften und eine beträchtliche Menge Feuerholz auf ihre Anhänger und machen sich auf den Heimweg. Für uns arbeitswütige Pfadfinder:innen ist es natürlich frisch gestärkt noch lange nicht vorbei. Meist arbeiten wir noch bis etwa 16 Uhr weiter. Doch dieses Jahr werden wir von einem kräftigen Regenschauer überrascht, der uns am Ende in die Knie zwingt. Wir verräumen noch das letzte Holz zu erkennbaren Haufen, bevor auch wir uns auf den Rückweg zum Schäferhof machen.

Dort angekommen, erwartet uns ein weiteres Abenteuer! Für das Gulasch am Abend bekommen wir vom Schäferhof ein Stück Schulter von der Heidschnucke. Aber was wäre ein gutes Gulasch ohne Pilze? Das wär´ doch nichts! Also erklärt Fabian uns jedes Jahr aufs Neue, welche Pilze essbar sind, wie wir sie korrekt abschneiden und wann wir sie lieber stehen lassen sollten, damit sie noch eine Saison wachsen können. Natürlich darf in diesem Kontext die Anekdote der krausen Glucke nicht fehlen, die Gil einst vor Jahren beim Entkusseln entdeckte, fotografierte und nicht mitbrachte – und die partout nicht wieder zu finden war. Und so staksen wir mit Messerchen und Pilzkorb bewaffnet durch den Neuenkirchener Wald auf der Jagd nach Steinpilzen und Maronen. Dabei erlebte jeder seine eigenen kleinen Abenteuer – vom mit dem Fuß im Moos stecken bleiben, Mäuse beim Wegflitzen beobachten, über verlassene Dachsbauten hin zu einem Mäusebussard, der uns wachsam bei unserem Treiben beobachtete. Jetzt fehlte nur noch eins, für den gelungenen Tagesabschluss: der Eintrieb der Heidschnucken. Wir brachten unsere gefüllten Körbe zurück zur Scheune und machten uns auf, mit den anderen neugierigen Besucher:innen den Eintrieb zu bewundern und mit Heidi zu kuscheln. Zu Beginn erzählte der Schäfer Wissenswertes über die Schnucken. Doch der wiederkehrende Entkussler war natürlich schon auf der Suche nach Heidi. Und wie könnte es anders sein: nach kurzer Zeit trottet eine Schnucke zielsicher auf uns zu und stupst uns an. Die folgenden Streicheleinheiten hatten sich alle Beteiligten redlich verdient. Natürlich wurden auch die anderen Schnucken fleißig gestreichelt und geherzt. Wusstet ihr, dass Heidschnucken ganz warme Hörner haben?

Nachdem die Heidschnucken in ihrem Stall verschwunden sind, lassen wir den Abend bei herzhaftem Heidschnuckengulasch, frischen Esskastanien und Tschai am Lagerfeuer ausklingen. Die Nacht verbrachten wir in der Scheune und ein mutiger Pfadfinder schlief draußen am Lagerfeuer. Am nächsten Morgen frühstücken wir traditionell Heidschnuckenrotwurst und Heidschnuckenmettwurst bevor wir dem Austrieb der Schnucken beiwohnen. So geht ein weiteres erfolgreiches Entkusseln zu Ende und die Pfadfinder:innen machen sich erschöpft, aber zufrieden, auf den Rückweg nach Lehndorf.

*Entkusseln, das. Zurückschneiden neuer Triebe und Setzlinge sowie junger Gehölze, den sogenannten Kusseln, in der Heide zur Erhaltung der „natürlichen“ Heidelandschaft mit vereinzelten Birken und Kiefern sowie dem typischen Heidekraut.

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